2108 Dornröschen

Dornröschen



Es waren einmal ein König und eine Königin. Die wünschten sich so sehr ein Kind - aber sie konnten keins bekommen.

Doch eines Tages, als die Königin einmal im See badete, platschte ein Frosch aus dem Wasser und sprach: "Dein Wunsch wird erfüllt. Bevor das Jahr um ist, wirst du eine Tochter bekommen."

Und so geschah es. Noch ehe das Jahr vergangen war, gebar die Königin ein Mädchen. Der König und die Königin freuten sich sehr und veranstalteten ein großes Fest. Sie luden nicht nur ihre Verwandten, Freunde und Bekannten ein, sondern auch die weisen Feen des Landes. Sie sollten dem Kind Glück bringen.

Nun lebten aber dreizehn Feen in dem Land, am Königshof gab es aber nur zwölf goldene Teller. Also bekam eine von ihnen keine Einladung und musste zu Hause bleiben.

Das Fest wurde mit großer Pracht gefeiert. Am Ende kamen die Feen zu dem Königskind und beschenkten es. Die eine übergab ihm verschiedene Tugenden, eine andere versprach ihr Schönheit, die dritte Reichtum und so weiter.

Als die elfte ihr Geschenk übergeben hatte, erschien plötzlich die dreizehnte Fee im Saal. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen worden war. Sie rauschte an allen anderen vorbei und sprach: "Du sollst dich in deinem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot umfallen."

Sprach's und verschwand. Alle waren sehr erschrocken, doch da trat die zwölfte Fee vor und milderte den Fluch: "Du sollst nicht sterben, sondern in einen hundert Jahre dauernden Schlaf fallen."

Der König wollte seine Tochter schützen und befahl, alle Spindeln im ganzen Königreich zu verbrennen. Das Kind wuchs heran und alle Wünsche der weisen Frauen erfüllten sich. Es war schön, sittsam, klug und freundlich. Jeder, der ihm begegnete, gewann es lieb.

An seinem fünfzehnten Geburtstag waren der König und die Königin nicht zu Hause und das Mädchen blieb ganz allein im Schloss zurück. Es nutzte die Gelegenheit und lief durch das ganze, riesige Gebäude und kam dabei in Stuben und Kammern, die es noch nie gesehen hatte.

Schließlich entdeckte es auch einen alten Turm. Es stieg die enge Treppe hinauf und gelangte zu einer Tür, in der ein verrosteter Schlüssel steckte. Es drehte den Schlüssel herum, öffnete die Tür und betrat einen kleinen, dunklen Raum. Darin saß eine alte Frau mit einer Spindel und spann Fäden aus Flachs.

Das Mädchen sprach die Frau an: "Guten Tag, liebe Frau, was machst du da?" - "Ich spinne", antwortete die Alte und nickte mit dem Kopf. "Was ist das für ein lustiges Ding, das da immerzu herum springt?", fragte das Mädchen und griff nach der Spindel. Doch kaum hatte es sie berührt, stach sie sich damit in den Finger.

Augenblicklich fiel sie auf das Bett und sank in einen tiefen Schlaf. Der Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss. Auch der König und die Königin, die soeben heimgekommen waren, legten sich schlafen und der ganze Hofstaat und alle Bediensteten mit ihnen.

Die Pferde im Stall, die Hunde im Hof, die Tauben auf dem Dache und die Fliegen an der Wand schliefen ebenfalls ein. Sogar das Feuer, das auf dem Herde flackerte, wurde still und erlosch. Der Braten hörte auf zu brutzeln und der Koch, der dem Küchenjungen gerade eine Backpfeife geben wollte, weil er etwas verschüttet hatte, ließ seine Hand sinken und beide schliefen ein.

Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen. Sie wurde jedes Jahr höher und höher und irgendwann war von dem Schloss nichts mehr zu sehen. Selbst die Fahne auf dem Dach verschwand unter den Dornen.

Bald sprachen die Menschen von der schönen, schlafenden Königstochter nur noch als dem Dornröschen. Von Zeit zu Zeit kamen Königssöhne und versuchten, durch die Hecke in das Schloss vorzudringen. Doch keinem gelang es, die Dornen hielten fest zusammen. Die jungen Männer blieben darin hängen und konnten sich nur mühsam wieder befreien.

Als fast einhundert Jahre vergangen waren, kam wieder einmal ein Königssohn in das Land und hörte die Geschichte von dem Dornröschen. Man erzählte ihm auch, dass es unmöglich sei, die Dornenhecke zu überwinden. 

Da sprach er: "Ich will es versuchen! Ich muss das Dornröschen sehen!" Alle rieten ihm ab, doch er hörte nicht auf ihre Worte.

Zufällig waren an dem Tag gerade die hundert Jahre vorbei, dass sich das Mädchen an der Spindel gestochen hatte. Der Königssohn näherte sich der Hecke und sah, dass aus den Dornen lauter große, schöne Blumen geworden waren. Die ließen sich leicht auseinander biegen und er gelangte ohne Schaden hindurch. 

Im Schlosshof schliefen immer noch die Pferde und die Jagdhunde, und auf dem Dache saßen die Tauben mit den Köpfen unter den Flügeln.

Im Haus schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche reckte noch die Hand empor, und die Magd saß da mit einem toten Huhn, das sie rupfen wollte. Er ging weiter und fand in dem großen Saal den Hofstaat und die Bediensteten. Alle schliefen. In der Nähe des Königsthrons lagen der König und die Königin und schlummerten tief und fest.

Endlich kam er zu dem Turm und öffnete die Tür zu der kleinen Kammer, in der das Dornröschen lag. Das Mädchen war so schön, dass er die Augen nicht abwenden konnte. Er bückte sich und gab ihm einen Kuss.

Da schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte und lächelte ihn freundlich an. Sie gingen zusammen herab. Auch der König und die Königin erhoben sich und alle anderen im Schloss ebenso und alle rieben sich den Schlaf aus den Augen. Die Pferde im Hof standen auf und schüttelten sich, die Jagdhunde sprangen wieder herum, die Tauben auf dem Dache sahen sich um und flogen davon.

Auch die Fliegen an den Wänden surrten weiter, das Feuer in der Küche begann zu lodern, und der Braten brutzelte wieder vor sich hin. Der Koch gab dem Küchenjungen nun doch noch eine schallende Ohrfeige, und die Magd rupfte dem Huhn die Federn aus.

Die beiden Königskinder aber verliebten sich ineinander und schon kurze Zeit später feierten sie Hochzeit. Von nun an lebten sie vergnügt auf dem Königsschloss bis ins hohe Alter. Die Blumenhecke wurde von Gärtnern fleißig gepflegt und vielleicht wächst sie ja immer noch ...

Erzählt nach dem Märchen von Jakob und Wilhelm Grimm

Bild: Hamsterkiste
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