2113 Das tapfere Schneiderlein

Das tapfere Schneiderlein



An einem Morgen im Sommer saß ein Schneider auf seinem Tisch am Fenster. Er nähte und konnte gleichzeitig beobachten, was auf der Straße geschah. Gerade kam eine Bauersfrau vorbei, die frisch gemachtes Pflaumenmus zum Kauf anbot.
Pflaumenmus mochte der Schneider für sein Leben gern und er kaufte der Frau einige Gläser ab. „Dieses Mus wird mir Kraft und Stärke geben“, sagte er, holte Brot aus dem Schrank, schnitt eine Scheibe ab und bestrich sie mit dem leckeren Pflaumenmus. Um seine Vorfreude noch ein wenig zu verlängern, stellte er das Brot zur Seite und begann, die Schneiderei zu Ende zu führen, die er gerade begonnen hatte.

Doch der Geruch von dem süßen Mus lockte auch zahlreiche Fliegen an, die sich ungefragt auf dem Brot niederließen. Das gefiel dem Schneider natürlich gar nicht. „Wer hat euch denn eingeladen?", sprach er und scheuchte die ungebetenen Gäste davon. Diese jedoch verstanden die Sprache des Schneiders offenbar nicht, denn sie ließen sich nur für kurze Zeit vertreiben und kamen bald noch zahlreicher zurück.

Da wurde der Schneider wütend. Er nahm einen Lappen und schlug damit nach den Fliegen. Als er ihn weg zog, lagen sieben von ihnen tot auf dem Tisch. „Sieben auf einen Streich!" jubelte der Schneider. Er dachte gar nicht mehr an das Pflaumenmus, sondern nur noch daran, was für ein toller Kerl er doch war.

Er meinte, das müsse die Stadt oder besser noch die ganze Welt erfahren. Er hielt seine Werkstatt nun für viel zu klein für solch einen tapferen Mann. Also holte er einen breiten Gürtel hervor und stickte „Sieben auf einen Streich!" darauf. Er band sich den Gürtel um und machte sich auf den Weg. Er fand noch einen alten Käse, den steckte er in die Hosentasche. Einen kleinen Vogel, der sich im Gestrüpp am Straßenrand verfangen hatte, fing er ein und nahm ihn ebenfalls mit auf die Reise.

Der Weg führte ihn auf einen Berg. Auf dem Gipfel saß ein gewaltiger Riese, der gemächlich über das Land blickte. Das Schneiderlein ging auf ihn zu und sprach ihn an: „Guten Tag, Kamerad. Was siehst du dir die Welt an? Komm mit, ich bin gerade auf dem Weg, die Welt besser kennen zu lernen.“

Doch der Riese sah den Schneider nur verächtlich an und sprach: „Was willst du, Kleiner? Hau bloß ab, du miserabler Kerl!“

„Nun mal langsam“,  antwortete das Schneiderlein, knöpfte den Rock auf und zeigte dem Riesen den Gürtel. „Hier lies, was ich für ein Mann bin!"

Der Riese las „Sieben auf einen Streich!". Er meinte, der Schneider habe sieben Menschen erschlagen. Nun kriegte er doch ein wenig Respekt vor dem kleinen Mann. Doch erst wollte er ihn prüfen. Er nahm einen Stein in die Hand und drückte ihn zusammen, dass das Wasser heraustropfte. „Mach mir das nach“, sprach der Riese, „damit ich sehe, wie stark du bist.“

„Wenn`s mehr nicht ist," sagte das Schneiderlein, „das ist doch nur Spielerei." Dabei griff er in die Tasche, holte den weichen Käse heraus und drückte ihn fest, so dass der Saft herauslief. Der Riese, der wohl nicht besonders hell im Kopf war, wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er machte einen zweiten Versuch. Er nahm einen Stein auf und warf ihn so hoch, dass man ihn mit den Augen kaum noch sehen konnte. „Nun, du Männchen, mach mir das auch nach“, sprach er.

„Der Wurf war nicht schlecht“,  meinte da der Schneider, „aber der Stein ist wieder zur Erde gefallen. Ich werde einen Stein werfen, den wirst du nie wieder sehen.“  Dabei griff er in die Tasche, nahm den Vogel und warf ihn in die Luft. Das Tierchen war natürlich froh über seine Freiheit, flog hoch in die Luft und kam nicht wieder. „Wie gefällt dir das, Kamerad?“ fragte der Schneider.

„Werfen kannst du wohl“, sagte da der Riese, „aber nun wollen wir sehen, ob du imstande bist, etwas Ordentliches zu tragen.“ Er führte das Schneiderlein zu einem mächtigen Eichenstamm, der gefällt am Wege lag und sagte: „Wenn du stark genug bist, hilf mir den Baum aus dem Wald heraus zu tragen.“

„Da helfe ich dir gern“, antwortete der kleine Mann, „nimm du nur den Stamm auf deine Schulter, ich will die Äste mit dem Gezweig aufheben und tragen, das ist doch der schwerste Teil.“

Der Riese nahm den Stamm auf die Schulter, der Schneider aber setzte sich auf einen Ast. Der Riese, der sich nicht umsehen konnte, musste den ganzen Baum tragen und das Schneiderlein noch obendrein. Es war dahinten ganz lustig und guter Dinge und pfiff sogar ein Liedchen, als wäre das Baumtragen ein Kinderspiel.
Nachdem der Riese den schweren Stamm ein Stück fortgeschleppt hatte, konnte er nicht weiter und musste ihn fallen lassen.

Der Schneider sprang schnell herab, fasste den Baum mit beiden Armen, als wenn er ihn getragen hätte und sprach: „Nun bist du ein so großer Kerl und kannst den Baum nicht einmal tragen.“

Sie gingen zusammen weiter und kamen an einem Kirschbaum vorbei. Der Riese fasste die Krone des Baumes, wo die reifsten Früchte hingen, bog sie herab und gab sie dem Schneider in die Hand, damit er die leckeren Kirschen pflücken konnte. Das Schneiderlein aber war viel zu schwach, um den Baum zu halten. Als der Riese losließ, schnellte der Baum in die Höhe und der Schneider wurde mit in die Luft gerissen. Als er wieder zu Boden gefallen war, sprach der Riese: „Nanu, du bist so ein starker Kerl und kannst nicht einmal das schwache Bäumchen halten?“

„An der Kraft fehlt es mir nicht“, antwortete das Schneiderlein, „ich bin über den Baum gesprungen, weil ein Jäger auf mich angelegt hatte und gerade auf mich schießen wollte. Aber spring du doch auch hinüber, wenn du es vermagst.“ Der Riese versuchte es, konnte aber nicht so hoch springen, sondern blieb in den Ästen hängen. Dann lud er den Schneider ein, mit in seine Höhle zu kommen und dort bei ihm und seinen Gefährten zu übernachten. Als sie in der Höhle anlangten, saßen da noch andere Riesen beim Feuer, und jeder hatte ein gebratenes Schaf in der Hand und aß davon.

Der Riese wies ihm ein Bett an und sagte, er solle sich hineinlegen und ausschlafen. Dem Schneiderlein war aber das Bett viel zu groß, es legte sich nicht hinein, sondern kroch in eine Ecke. Als es Mitternacht war und der Riese meinte, der Gast läge in tiefem Schlafe, stand er auf. Er nahm eine große Eisenstange, schlug das Bett mit einem Schlag in Stücke und meinte, er hätte den Schneider erledigt.

Am Morgen gingen die Riesen in den Wald und hatten das Schneiderlein ganz vergessen. Da kam es auf einmal ganz lustig und verwegen daher gelaufen. Die Riesen, die ihn doch für tot hielten, erschraken sehr. Sie meinten, der Schneider stünde mit übernatürlichen Kräften im Bunde, fürchteten um ihr Leben und liefen in aller Hast fort.

Der Schneider zog weiter, immer seiner spitzen Nase nach. Nach einer langen Wanderung kam er in den Hof eines königlichen Palastes. Da er sehr müde war, legte er sich ins Gras und schlief ein. Während es da lag, kamen Leute vorbei, betrachteten ihn von allen Seiten und lasen auf dem Gürtel „Sieben auf einen Streich!“

„Das muss ein großer Kriegsheld sein. Was der wohl hier will mitten im Frieden?“, meinte einer und sie gingen hin und meldeten es dem König. Sie meinten, wenn Krieg ausbrechen sollte, wäre das ein wichtiger und nützlicher Mann, den man um keinen Preis fortlassen dürfe. Dem König gefiel der Rat. Er schickte einen von seinen Hofleuten zum Schneiderlein, der sollte ihn als Krieger einstellen. Der Abgesandte blieb bei dem Schläfer stehen, wartete, bis der die Augen aufschlug und brachte dann seinen Antrag vor.

„Eben deshalb bin ich hierher gekommen“, antwortete das Schneiderlein, „ich bin bereit, in des Königs Dienste zu treten.“ Er wurde ehrenvoll empfangen und bekam eine besondere Wohnung.

Die anderen Kriegsleute des Königs aber fürchteten sich vor dem Schneider und wünschten ihn tausend Meilen weit weg. „Wenn wir Streit mit ihm bekommen und er haut zu, dann fallen auf jeden Streich sieben von uns um“, sagte einer. Sie gingen zum König und baten um ihren Abschied. Der König war traurig, dass er wegen des Schneiders alle seine treuen Diener verlieren sollte. Er wäre ihn gerne wieder los geworden. Aber er getraute sich nicht, ihn zu entlassen, denn er fürchtete, er würde ihn umbringen und sich auf den königlichen Thron setzen.

Schließlich hatte er eine Idee. Er ließ dem Schneider ausrichten, er möge doch das Land von zwei Riesen befreien, die in einem Walde seines Landes hausten und die mit Rauben, Morden, Sengen und Brennen großen Schaden stifteten. Bisher traute sich keiner in ihre Nähe. Wenn er diese beiden Riesen überwände, so sollte er die einzige Tochter des Königs zur Gemahlin bekommen und das halbe Königreich dazu. Hundert Reiter sollten mitziehen und ihm Beistand leisten.

Das reizte den Schneider, denn eine schöne Königstochter und ein halbes Königreich wird einem nicht alle Tage angeboten. „Die Riesen will ich  bändigen und ich habe die hundert Reiter dabei nicht nötig“, ließ er dem König ausrichten, „wer sieben auf einen Streich trifft, braucht sich vor zweien nicht zu fürchten.“ Der vermeintliche Kriegsheld zog hinaus und die hundert Reiter folgten ihm. Am Rande des Waldes ließ er seine Begleiter anhalten, er wolle allein mit den Riesen fertig werden.

Er ging in den Wald und nach einer Weile erblickte er beide Riesen. Sie lagen friedlich unter einem Baum. Sie schliefen und schnarchten dabei, dass sich die Äste bogen. Der Schneider sammelte viele Steine, steckte sie in die Taschen seiner Hose und stieg damit auf den Baum, unter dem die Riesen lagen. Durch die Blätter des Baumes vor Entdeckung geschützt, ließ er dem einen Riesen einen Stein nach dem andern auf die Brust fallen. Der spürte lange nichts, doch endlich wachte er auf, stieß seinen Gesellen an und schimpfte: „Was schlägst du mich?“ – „Du träumst“, entgegnete der andere, „ich schlage dich nicht.“

Sie legten sich wieder hin und schliefen auch bald wieder ein, da warf der Schneider auf den zweiten einen Stein herab. „Was soll das?“ rief nun der andere, „warum wirfst du mich mit Steinen?“ – „Ich bewerfe dich nicht“, antwortete der erste und brummte schlaftrunken. Sie zankten eine Weile herum, doch weil sie müde waren, ließen sie's gut sein und die Augen fielen ihnen wieder zu.

Das Schneiderlein wartete, dann fing er sein Spiel von neuem an. Er suchte den dicksten Stein aus und warf ihn dem ersten Riesen mit aller Gewalt auf die Brust.
„Jetzt reicht es!“, schrie dieser, sprang wie ein Wahnsinniger auf und stieß seinen Gesellen gegen den Baum, dass die Erde bebte. Der andere ließ sich das nicht gefallen. Schließlich gerieten sie in solche Wut, dass sie Bäume ausrissen und so lange aufeinander losschlugen, bis sie endlich beide zugleich tot auf die Erde fielen.

Nun sprang der kleine Schneider herab. Es zog sein Schwert und versetzte jedem ein paar tüchtige Hiebe in die Brust, dann ging es hinaus zu den Reitern und sprach: „Die Arbeit ist getan, ich habe beide besiegt. Aber es ist hart zugegangen, sie haben in der Not Bäume ausgerissen und sich gewehrt, doch das hilft alles nichts, wenn einer kommt wie ich.“ Die Reiter glaubten ihm zunächst nicht und ritten in den Wald hinein. Da fanden sie die Riesen, die in ihrem Blute schwammen, und ringsherum lagen die ausgerissenen Bäume.

Das Schneiderlein verlangte nun vom König die versprochene Belohnung. Der aber bereute sein Versprechen, und er sann aufs Neue darüber nach, wie er sich den Helden vom Halse schaffen könnte.

Er stellte ihm eine weitere Aufgabe, Er sollte ein gefährliches Einhorn einfangen, das die Wälder des Königs unsicher machte. Der Schneider fürchtete sich auch davor nicht. Er nahm einen Strick und eine Axt und ging hinaus in den Wald.

Schon nach kurzer Zeit hatte ihn das Einhorn entdeckt. Es näherte sich mit großer Geschwindigkeit und wollte ihn mit seinem gefährlichen Horn aufspießen. Der Schneider ließ es ganz nahe heran kommen. Dann sprang er plötzlich hinter einen Baum. Das Einhorn versuchte, ihm zu folgen. Dabei rannte es mit voller Wucht gegen den Baum und stieß dabei sein Horn so tief in den Stamm, dass es dieses nicht mehr herausziehen konnte.

Der Schneider fesselte das Tier mit seinem Strick, hieb das Horn mit der Axt ab und führte das wehrlose Tier zum König. Der hatte damit offenbar nicht gerechnet, wollte ihm aber immer noch nicht die versprochene Belohnung zukommen lassen. Er stellte eine dritte Forderung. Der Schneider sollte dieses Mal ein riesiges Wildschwein fangen, dem die Jäger schon lange vergeblich nachgestellt hatten.

Der Schneider hielt diese Aufgabe für ein Kinderspiel. Er verzichtete auf die Begleitung durch die ängstlichen Jäger und begab sich unverzüglich in den Wald. Als ihn das Schwein erblickte, rannte es mit schäumendem Maul und wetzenden Zähnen auf ihn zu. Der Schneider konnte sich gerade noch in eine kleine Kapelle retten, die in der Nähe stand.

Das Wildschwein verfolgte ihn, doch er sprang durch ein Fenster wieder hinaus, lief um die Kapelle herum und schlug die Tür zu. Nun war das wütende Tier gefangen, denn es war viel zu schwer und zu unbeholfen, um ebenfalls durch das Fenster zu entkommen. Das Schneiderlein rief anschließend die Jäger herbei, die das Tier mit ihren Spießen erlegten.

Unser Held aber begab sich zum König, der nun doch sein Versprechen halten musste, er mochte wollen oder nicht. So wurde mit großer Pracht die Hochzeit mit der Königstochter gefeiert und der Schneider bekam das halbe Königreich.

Nach einiger Zeit hörte die junge Königin in der Nacht, wie ihr Gemahl im Traum sprach: „Junge, näh den Wams und flick die Hosen zu Ende, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen.“

Da merkte sie, dass sie mit einem Schneider verheiratet war. Sie klagte am anderen Morgen ihrem Vater ihr Leid und bat, er möge sie von dem Manne befreien. Der König sprach ihr Trost zu und sagte: „Lass in der nächsten Nacht die Tür zu eurer Schlafkammer offen, meine Diener werden draußen stehen. Wenn er eingeschlafen ist, werden sie heimlich hinein gehen, ihn fesseln und auf ein Schiff tragen, das ihn weit fort bringen wird.“ Die Frau war einverstanden, ein Diener des Königs jedoch hatte alles mit angehört und verriet dem jungen Herrn den listigen Plan.

Der Schneider dachte, auch damit fertig zu werden. Am Abend legte es sich zu gewöhnlicher Zeit mit seiner Frau zu Bett. Als sie glaubte, er sei eingeschlafen, stand sie auf und öffnete leise die Tür. Das Schneiderlein, das sich nur schlafend stellte, rief plötzlich laut: „Junge, näh den Wams und flick die Hosen endlich zu Ende, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen. Ich habe sieben mit einem Streich getroffen, zwei Riesen getötet, ein Einhorn und ein Wildschwein gefangen und werde mich vor denen nicht fürchten, die draußen vor der Kammer stehen!“

Als diese den Schneider so sprechen hörten, überkam sie große Furcht, sie liefen fort, so schnell sie ihre Beine trugen. Nun wagte sich keiner mehr an ihn heran. Also war und blieb der Schneider sein Lebtag König.
Erzählt nach dem Märchen von Jakob und Wilhelm Grimm
Bild: Carl Offterdinger, gemeinfrei
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