2021 Das Pferd am Kirchturm

Das Pferd am Kirchturm

Eine Lügengeschichte des Barons von Münchhausen
Ich trat meine Reise nach Russland mitten im Winter an, weil dann Frost und Schnee die Wege durch die nördlichen Gegenden von Deutschland, Polen, Kur- und Livland besser machen. Ich reiste zu Pferde, weil es die bequemste Art zu reisen ist. Ich war nur leicht bekleidet, also fror ich sehr, je weiter ich nach Nordosten kam.

Da traf ich auf einen armen, alten Mann, der in Polen auf einem öden Anger hilflos und schaudernd dalag. Der arme Teufel dauerte mir von ganzer Seele. Obwohl mir gleich selbst das Herz im Leibe fror, so warf ich dennoch meinen Reisemantel über ihn her. Ich ritt weiter, bis Nacht und Dunkelheit mich überfielen. Nirgends war ein Dorf zu hören noch zu sehen. Das ganze Land lag unter Schnee; und ich wusste weder Weg noch Steg.

Dann stieg ich endlich ab und band mein Pferd an eine Baumspitze, die über dem Schnee hervorragte. Zur Sicherheit nahm ich meine Pistolen unter den Arm, legte mich nicht weit davon in den Schnee nieder und tat ein  gesundes Schläfchen.

Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich am nächsten Morgen fand, dass ich mitten in einem Dorf auf dem Kirchhofe lag! Die Sonne schien, aber mein Pferd war anfänglich nirgends zu sehen; doch hörte ich es bald irgendwo über mir wiehern. Als ich nun empor sah, bemerkte ich, dass es an den Wetterhahn des Kirchturms gebunden war und von da herunterhing.

Das Dorf war nämlich die Nacht über ganz zugeschneit gewesen. Das Wetter war jedoch umgeschlagen und es hatte zu tauen begonnen. Ich war im Schlafe nach und nach ganz sanft herabgesunken. Was ich in der Dunkelheit für den Stummel eines Bäumchens gehalten hatte, das war das Kreuz oder der Wetterhahn des Kirchturmes gewesen.

Daran hatte ich mein Pferd gebunden, das nun in der Luft hing. Ohne zu zögern nahm ich eine von meinen Pistolen, schoss nach dem Halfter, und kam glücklich wieder an mein Pferd und setzte meine abenteuerliche Reise fort. 

Bild: gemeinfrei

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